Wie können wir helfen?

“Wie groß ist groß genug?” Überlegungen zu Fusionen von Gemeinden und Landkreisen

< zurück

von Lars Kleba

Gebiets- und Strukturreformen werden regelmäßig mit der Möglichkeit von Ausgabensenkungen, Effizienzsteigerungen und einer Professionalisierung der Verwaltung begründet. Studien und vor allem gelebte Erfahrungen weisen allerdings auf Gegenteiliges hin. In den letzten Monaten und Jahren wurden in Brandenburg und Thüringen jeweils Gemeinde- und Kreisgebietsreformen diskutiert. Befürworter der Reform verweisen in beiden Ländern zumeist auf den künftig zu erwartenden Bevölkerungsrückgang, der ohne eine Vergrößerung der politischen Strukturen zu steigenden Pro-Kopf-Ausgaben führen könnte. Beide Länder haben seit fast 25 Jahren ihre Kreisstruktur nicht verändert. Umso größer ist heute der Widerstand. Brandenburg hat bereits die Notbremse gezogen und die Pläne bereits vor der Umsetzung gestoppt.

Immer mehr Studien weisen darauf hin, dass Gebietsreformen mit substanziellen politischen Kosten, z. B. einer sinkenden Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen, einhergehen. Seit 1990 wurde die bestehende demokratische Basis des Staates in über 20.000 deutschen Dörfern aufgelöst. Man hat ihnen Gebietsreformen aufgezwängt und damit Selbstverantwortung mit Bürgermeister und Gemeinderat genommen. Dörfer – als kleinste Einheit von Gemeinden – verloren durch die Gebietsreformen ihre eigene demokratische Kraft und damit auch das Selbstwertgefühl, für ihr Dorf Kompetenz zu besitzen und verantwortlich zu sein. Im Zuge von Gebietsreformen wurden über 300.000 ehrenamtlich tätige Kommunalpolitiker*innen entlassen. Damit wurde ihnen signalisiert, dass ihr lokales Denken, Fühlen und Handeln nicht mehr gebraucht wird. Dies führt zu Resignation, Frust und sicherlich auch Enttäuschung. Der Staat – in Gestalt von Bund und Ländern – ist ein wesentlicher Mitverursacher der gereizten Stimmung und Resignation auf dem Lande. Er bringt den Dörfern und Landgemeinden zu wenig Anerkennung, finanzielle Unterstützung und gestalterische Freiräume. Das Subsidiaritätsprinzip im Staatsaufbau ist bereits weitgehend ausgehöhlt, und dieser Trend setzt sich weiter fort.

Auf dem Lande hat in den letzten Jahrzehnten eine zweifache Entmündigung kommunaler Instanzen stattgefunden. Die Entmündigung der Kommunen zeigt sich erstens in rechtlichen, planerischen und finanziellen Reglementierungen. Inzwischen sind etwa 90 % der kommunalen Ausgaben durch staatliche Gesetze und Richtlinien festgelegt. Die fehlende freie Spitze kommunaler Finanzplanung zwingt zweitens viele Kommunen zu verstärkter Schuldenaufnahme. In der ländlichen Kommunalpolitik dominiert in der Summe das Gefühl der Geringschätzung und Bevormundung durch die hohe Politik. Fährt man durch und übers Land, so ist seit Jahren ein Ausbluten der Dörfer zu beobachten. Und dass obwohl das Landleben ziemlich „in“ ist. Aber unsere Dörfer sind leerer geworden: an Menschen, an Betrieben und Arbeitsplätzen, an Schulen, Gasthöfen, Läden, Banken und an Angeboten für Kinder und Jugendliche. Das Fazit: die Jugend wandert ab, die Älteren bleiben allein zurück.

1990 startete der Freistaat Sachsen mit 48 Landkreisen und sechs kreisfreien Städten in die Nachwendezeit. Schon 1994 kam die erste Reform und der Zusammenlegung auf 22 Landkreise und 7 kreisfreie Städte. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es viele gerichtliche Widerspruchsverfahren. Im Jahr 2008 kam der vorerst letzte Schnitt. Das Ergebnis sind die heute bekannten zehn Landkreise sowie Dresden, Leipzig, und Chemnitz als kreisfreie Städte. Ist dieser Zuschnitt mit den 10 Landkreisen eine arbeitsfähige Struktur? Oder erweisen sie sich als zu groß für Ehrenämter in der Kommunalpolitik? Wie können sich die Einwohner der Dörfer ganz konkret einmischen und Politik in ihrem Ort mitbestimmen? Haben sie dazu Gelegenheit? Können Sie sich im Kreistag einmischen? Je größer die Kreise, desto schwieriger ist es für einzelne Gemeinden, ihre Interessen im Kreistag zu wahren. Ein Kreistag der vielleicht 6 x im Jahr zusammenkommt und mit wechselnden Tagungsorten weit weg vom eigentlichen Geschehen ist? In Gemeinden, die zusammengelegt wurden, geht die Wahlbeteiligung runter. Und bleibt etwa gleich in Gemeinden, die nicht fusioniert wurden. Menschen wollen sich mit ihren Orten, mit ihrem zu Hause identifizieren. Sie kennen meist jede Ecke und jeden Strauch und wissen auch wo die Schuhe drücken. Dass diese Identität gerade im Osten wichtig ist, zeigt allein die Tatsache, dass es hier besonders viele Anträge für die „alten Autokennzeichen“ gibt. Heimatliebe wenigstens auf dem Nummernschild erhalten, könnte man hier vermuten, wenn man vor allem in Sachsen aber eben auch in Brandenburg immer wieder Autokennzeichen aus den frühen 90er Jahren sieht, deren Kreisgrenzen seit Jahren nicht mehr existieren.

Der Wirtschaftswissenschaftler Felix Rösel vom Dresdener ifo-Institut hat sich ausführlich mit Gebietsreformen beschäftigt und dort u.a. das Wahlverhalten von Gemeinden verglichen, die sich nach der Gebietsreform in unterschiedlich großen Kreisen wiederfanden. Mit dem Ergebnis, dass „die, die in einem etwas größeren Kreis gelandet sind: Dort wird signifikant mehr AfD gewählt als in den Nachbargemeinden, die fast genau gleich sind.“ Das Aufgehen in größeren Strukturen, so das Fazit, bringt eine gewisse Heimatlosigkeit mit sich. Das Unbehagen, im Parlament nicht mehr ausreichend vertreten zu sein: „Je größer ein Landkreis wird, desto weniger ist die einzelne Gemeinde, der einzelne Wähler, fühlt sich repräsentiert vom Kreistag. Und da nimmt die Zufriedenheit mit der Demokratie ab. Und das treibt die Leute in Richtung Populisten.“

Unser Land muss investieren, und das vor allem in Herz und Hirn. Aber auch in eine Politik, die Kinder und Jugendliche und alle Einwohner an den sie betreffenden Entscheidungen sinnvoll beteiligt, zum Beispiel in der Stadtentwicklung, beim ÖPNV, aber auch in Schule, Kultur, Sport oder im Jugendclub. Partizipation ist nicht nur für junge Menschen gut, sondern würde durch Transparenz und gelebte Demokratie unsere Gesellschaft auf allen Ebenen stärken.

Dörfer und keine Gemeinden brauchen eine eigenverantwortliche, selbstbestimmte Zukunft um lebendiges Landleben zu gestalten. Je mehr die Menschen ihren Lebensraum gestalten können, desto attraktiver wird er auch für andere.


Lars Kleba ist stellvertretender Vorsitzender des Kommunalpolitischen Forum Sachsen und lebt zeitweise auf’m Dorf und in einer Großstadt